Wir alle kehren hierher zurück
Als ich als Kind im Ostrov in den Ferien war, gab es im Fluss Blanice so viel Wasser, dass selbst Erwachsene an vielen Orten nicht stehen konnten [1]. Der Fluss war voller Fische, und zum Abendessen aßen wir oft Weißfische, Flussbarsche, Hechte und manchmal sogar Aale. Für meine Großonkel Anton, Bohouš, Karel und Johan war das Angeln Vergnügen und Nutzen zugleich. Als Kinder gingen wir in den Wald Pilze, Himbeeren, Brombeeren und Erdbeeren sammeln. Dies war eine Bereicherung unserer Speisekarte. Ich erinnere mich noch, dass es auf dem Weg in den Wald im Bach Flusskrebse hatte. Einmal ging ich mit Karel zusammen, um sie zu fangen. Weil ich sie aber so hässlich fand, bin ich ein zweites Mal nicht mehr mitgegangen. Meine Großonkel waren sehr unternehmungslustig, sie fuhren mit dem Rad, gingen Schwimmen und spielten Volleyball. Ich erinnere mich genau an ihre Karren, mit denen sie in den Wald zum Holzsammeln gefahren sind. Damals hat man auf Öfen gekocht, in denen mit Holz geheizt wurde. Es war eine schöne Hitze, die nicht nur die Küche, sondern auch andere Räume beheizt hat. Deshalb war der Wald damals so sauber und aufgeräumt, und kein einziger Zweig oder Tannzapfen lag am Waldboden. Ich schreibe dies deshalb auf, weil jetzt, wo sich mein Lebensende nähert, und nach den vielen Jahren, in denen ich nicht in Ostrov war, meine Erinnerungen an diese Zeit sehr klar sind.
Ich stelle mir vor, an bekannten Orten und Wegen diese längst verstorbenen Menschen anzutreffen, wie wenn nicht bereits Jahrzehnte vergangen wären. Unsere Großonkel und Großväter, die aus Ostrov stammen, waren: Franz, Anton, Karel, Bohouš, Johan und Josef. Noch heute sehe ich sie ganz klar, Karten spielend, mit einem Buch in der Hand umhergehend, oder im Gespräch miteinander. Ihre Kinder waren: Mein Großvater Franz hatte Marie, Táňa, Otilie, Růžena, František und Karel (Liebling von allen, wegen seinem schönen Aussehen und Charme) [2]. Antons Tochter war Andělka (sie erinnerte tatsächlich an einen Engel, wegen ihrem sanften Wesen und zierlichem Aussehen) [3]. Die Kinder von Bohouš waren Anička und Ruda. Die Kinder von Johan waren Mařka und Jenda. Die Tochter von Karl war Lidka (ich mochte sie sehr gut, ihrer Liebenswürdigkeit und ihres Lachens wegen). Alle waren gerne zusammen, genossen das Leben und waren guter Laune. Wir spielten zusammen Theater, gingen im Umzug unter die Felsen Würste braten, oder tanzten zur Musik von Plattenspieler; jung, alt und Kinder. Zu dieser Zeit, war es in Ostrov friedlich. Vielleicht verschönere ich meine Erinnerungen, dass ich nur das Angenehme wiedegebe. Die Onkel hatten kein großes Einkommen, somit lebte man bescheiden, aber zufrieden. Insbesondere lebte man von dem, was Haus, Garten, Wald und Fluss hergaben. Meine Mutter liebte Ostrov, und deswegen verbrachten wir sämtliche Ferien dort.
Zu Hause in Prag war sie war immer sehr beschäftigt, und deswegen ließ sie mich während der Woche bei Tanten oder Dienstmädchen. Sie selber kam am Sonntag. Manchmal nahm sie frei, und blieb eine ganze Woche. Sie war immer elegant, hatte schöne Kleider und duftete nach französischem Parfüm. Von meinem Leben war sie distanziert. In Ostrov spielte sie leidenschaftlich Karten mit meinen Großonkeln. Deswegen habe ich sie nicht häufig gesehen. (Es ist eigenartig, dass ich als einzige der ganzen Familie ihre Leidenschaft für Karten geerbt hatte.) Erst später, als sie sie ihren zweiten Ehemann JUDr. Vokoun (ein edler Mensch, der meine Mutter grenzenlos liebte) heiratete, hat sie sich ein bisschen beruhigt und wir sind uns näher gekommen [4].
Zu Ostrov hatte meine Mutter eine besondere Beziehung, insbesondere weil sie hier als älteste Tochter von František und Františka Mančalová geboren wurde. Um das Jahr 1900 hatten ihre Eltern hier einen Bauenhof, ein Wirtshaus und ein Geschäft. Meine Mutter musste sich bereits als Kind um das Geschäft kümmern. Zur Schule ging sie jeden Tag nach Velíš und in die Mittelschule nach Vlašim jeden Tag zu Fuß [5]. Sie erzählte mir oft, wie sie sich schrecklich fürchtete, besonders im Herbst und Winter, wenn es morgens und abends dunkel war. Sie war die einzige aus dem ganzen Dorf Ostrov, deren Eltern wollten, dass sie nach Vlašim zur Schule ging, 7 km hin und 7 km zurück.
Im Alter von 15 Jahren schicken sie ihre Eltern zu einem Onkel nach Wien, wo sie als Modistin ausgebildet wurde. Sie hatte dort den Ersten Weltkrieg überstanden, mit allen Schrecken, Kälte und Hunger. Nach ihrer Rückkehr nach Böhmen wurde sie eine erfolgreiche Geschäftsfrau; die Tschechen wollten tschechische Geschäfte und Wiener Eleganz, und beide Anforderungen konnte meine Mutter erfüllen. Ihr größter Wunsch, ein eigenes Haus im geliebten Ostrov zu erwerben, blieb ihr aber verwehrt. Während der Zeit, als sie die nötigen Mittel zum Kauf zur Verfügung gehabt hätte, verkaufte ihr im Ostrov niemand ein Stück Land. Dies war die Enttäuschung ihres Lebens. Als die Kinder aufwuchsen und sich die Häuser ihrer Onkel gefüllt haben, hatte sie verschiedene Ferienwohnungen bezogen, manchmal auch unbequeme, aber Ostrov gab sie nicht auf. Jahrelang kümmerte sie sich in den Ferien mit Pepa [6] um unseren Sohn Michal, der, wie ich, während der Kindheit seine Ferien in Ostrov verbrachte. Im Frühling und Herbst fuhren wir oft zu Beauforts nach Zbraslav, wo meine heißgeliebte Tante Otilie lebte [7].
Ich stelle mir oft meine Mutter vor, welche Freude sie gehabt hätte, dass wir jetzt zusammen mit Miloš in Ostrov ein Haus mit Blick auf den Blaník besitzen [8]. Auf diese Weise ist ihr Wunsch doch in Erfüllung gegangen, und ich habe das Haus nicht zuletzt als Erinnerung an sie angeschafft. In Ostrov, erscheint sie mir immer wieder zusammen mit Pepa und den anderen, die bereits auch verstorbenen sind, alle zusammen in ihren besten Jahren und voller Leben. Ohne sie bin ich in Ostrov traurig.
Marcela Borkovec, 2001
Anmerkungen
[1] Ostrov heisst ein Dorf in der Nähe von Vlašim südlich von Prag. Durch das Dorf fließt der Fluss "Blanice", daher auch der Name des Dorfes, weil "Ostrov" auf Tschechisch "Insel" heißt.
[2] Marcela war die Tochter von Marie.
[3] "Anděl" heißt auf Tschechisch "Engel".
[4] In Tschechien wird JUDr. als Abkürzung für Juris Utrisque Doctor verwendet, was heutzutage etwa einem Master in Rechtswissenschaften entspricht. Ein aufmerksamer Leser, der die deutsche Übersetzung mit dem tschechischen Original vergleicht, hat vielleicht bemerkt, dass weiter oben "Vokoun" mit Flussbarsch übersetzt wurde, hingen hier als "Vokoun" belassen wurde, weil es der Familienname ist. In Tschechien sind Tierarten, Pflanzennamen, Esswaren als Familiennamen nicht unüblich.
[5] Velíš ist das Nachbarsdorf von Ostrov, Vlašim ist der nächste größere Ort.
[6] Pepa ist im Tschechischen der Kurzname für Josef, der Vorname des zweiten Mannes von Marcelas Mutter, Josef Vokoun.
[7] Otilie, die Tante von Marcela, hat nach ihrer Heirat den Familiennamen Beaufort angenommen. Beauforts wohnten in Zbraslav, ein Vorort von Prag.
[8] Blaník heißt ein markanter Berg in der Nähe von Ostrov, der wegen einer Sage über ein schlafendes Ritterheer in ganz Tschechien bekannt ist. Der Name des Flusses "Blanice" leitet sich vom Namen dieses Bergs ab.